Süße Mädel, gefallene Mädchen

 

Das Begleitbuch zur Ausstellung „Arthur Schnitzler. Affairen und Affekte“

Von André Schwarz

Vom 12.10. 2006 bis zum 21.1. 2007 fand im Österreichischen Theatermuseum die Ausstellung „Arthur Schnitzler. Affairen und Affekte“ statt, die nun ins Literaturhaus Berlin umgezogen und dort noch bis zum 28.10. 2007 zu sehen ist.
Die Ausstellung erschöpft sich nicht nur im Biografischen, dem Besucher soll die Möglichkeit der „Begehung von Texten“ gegeben werden, die Welt Schnitzlers und seiner Protagonisten soll mittels ausgewählter Texte und Objekte erfahrbar werden. Eine Art „begehbarer Hör und Sehraum“ also, der zur Begegnung mit den „zeitgenössischen Diskursen, Dokumenten und Bildern“ einladen soll. Die Kuratoren der Schau stützen sich hierbei hauptsächlich auf drei Werke Schnitzlers: Die „zehn Dialoge“ des „Reigen“ (1896), die Novelle „Lieutenant Gustl“ (1900) und die spätere Erzählung „Fräulein Else“ (1924). Die Erotik, die Kunst der Andeutung und Verhüllung findet hier ebenso ihren Platz wie die Hinterfragung eines anachronistischen Ehrbegriffes und der Moralvorstellungen.
Das Buch zur Ausstellung versteht sich nicht als simpler erläuternder Katalog, sondern vielmehr als ein Begleitbuch, das die von der Ausstellung angedeuteten Spielräume erweitert oder unter anderem Blickwinkel neu analysiert. Und in der Tat, die zehn Beiträger haben ein ganz erstaunliches Panorama geliefert, das den Leser ungemein kurzweilig auf einen Parcours durch die unterschiedlichsten Aspekte führt. Juliane Vogel etwa beschäftigt sich in ihrem Beitrag „Hautnähe und Körperhaftung“ mit der raffinierten Choreografie der Kleidung und Enthüllung in Schnitzlers „Fräulein Else“ und im „Reigen“. Die glamourös wirkende Mode Elses erscheint als notdürftiger Schleier über einer längst finanziell wie moralisch bloßgestellten Existenz, die finale Enthüllung als Vorwegnahme der öffentlichen Aufdeckung des Bankrottes. Der Reigen des Sich-Verhüllens und des Entkleidens, der eine zentrale Stellung in der Erzählung einnimmt, ist aber auch die Beschreibung einer erwachenden weiblichen Sexualität und Begehrens, die hier wesentlich mehr zum Thema werden als in dem fast dreißig Jahre zuvor geschriebenen „Reigen“. Der Akt des Entkleidens ist lediglich eine Randnotiz auf dem Weg zum sexuellen  Höhepunkt (der analog auch den Höhepunkt der Szene bildet). Und doch kommt der Kleidung auch in jenen „Dialogen“ eine nicht zu unterschätzende Rolle zu – wie Vogel sehr treffend herausarbeitet –, dient sie doch als Manifestation der Standesunterschiede. Die Triebbefriedigung der niederen Schichten wird nicht durch das Textil aufgehalten, erst „mit dem Erreichen der höheren Stände trifft der Trieb auf das Hindernis der Kleidung“.
Von typografischer Seite nähert sich Hermann Schlösser der „Kunst der Aussparung“, wenn er sich mit den verräterisch vielsagenden Strichen im „Reigen“ beschäftigt, die den Akt mehr enthüllen als verdecken. Und gerade die Gestalt dieser Striche ist das Entscheidende – es sind eben keine Divis-Striche (also trennende) sondern Geviertstriche, die Auslassungen im Satz markieren. Vulgo wird der Geviertstrich auch Gedankenstrich genannt – und schon ist man bei der Frage, welche Gedanken denn die Auslassungen im „Reigen“ provozieren. Ein ungewöhnlicher, aber daher auch umso interessanterer Ansatz.
Um den „Reigen“ geht es auch in Evelyne Polt-Heinzls Beitrag, die sich mit der sozialpsychologischen Komponente des Stückes beschäftigt und bei Hajo Eickhoff, der der Choreografie der Begegnungen eine kunstvolle der „Gestelle“, also der Liegen und Stühle entgegensetzt.
Peter Huemer wechselt in „Die Armee. Die Ehre. Der Leutnant“ zur Novelle „Lieutenant Gustl“ und untersucht den Ehrenkodex der k.u.k.-Armee, die Rivalitäten zwischen den einzelnen Verbänden und den Stellenwert des Duells. Ferner greift er knapp die Affäre auf, die Schnitzler nach dem Erscheinen des „Gustl“ durchzustehen hatte. Am 20. Juni 1901 wurde Schnitzler vom „Ehrenrat für Landwehroffiziere und Kadetten“ sein Offiziersrang aberkannt und er wurde zum einfachen Sanitätssoldaten degradiert, da seine Novelle eine „Herabwürdigung des Officiersstandes“ darstelle.
Mit der Psychoanalyse und der Technik der Hypnose beschäftigen sich Evelyne Polt-Heinzl und Astrid Lange-Kirchheim in ihren ebenso informativen wie überzeugenden Beiträgen „Leutnant Gustl – Vom freien Assoziationsverkehr“ beziehungsweise „,Dummer Bub‘ und ,liebes Kind‘ – Aspekte des Unbewussten in Arthur Schnitzlers Lieutenant Gustl und Fräulein Else“. Die Konnotationen und Kontexte zwischen Fantasie, Drogen und Ökonomie lotet Franziska Schlösser in „Börse und Begehren“ auf, Gisela Steinlechner verortet Else als Schwankende zwischen femme fragile und femme fatale, die sich in ihrer Fantasie als Prophetin der einer neuen Art Frau erweist, als die moderne, fortschrittlich-emanzipierte Frau der roaring twenties.
Zwei überaus lesenswerte Beiträge gehen etwas weg von den Werken hin zur Person des Autors. Michael Rohrwasser untersucht zunächst „Arthur Schnitzler, seine jüdischen Figuren und der Antisemitismus“, indem er die unverhohlene antisemitische Rezeption der Werke wie der Person Schnitzlers darlegt, die bereits um 1900 einsetzte. Da protestieren sozial-christliche Abgeordnete gegen die Verleihung eines Preises an den „Juden Schnitzler“, faseln Rezensenten in der „Reichspost“ vom „Lüsternheitskitzel eingedrungener Asiaten“ oder bitten Wiener Bürger um die Änderung der Namen der Protagonisten, da sie es als „peinlich“ empfinden, wenn ihr „ehrbarer“ Nachname zu dem eines „jüdischen Arztes und Theaterhelden“ wird. Leider fasst sich Rohrwasser sehr kurz, hierzu hätte man sich durchaus mehr Informationen gewünscht, lobenswerter Weise finden sich in den Fußnoten einige Literaturhinweise zum Thema. Der Artikel streift aber auch die Frage nach Schnitzlers Position zum Judentum und dem allgegenwärtigen Antisemitismus in Wien, der sich in der Person des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger personifizierte. Jenem Lueger, zu dessen Begräbnis Hitler persönlich erschien und dessen sich die Stadt Wien nicht schämte, als sie einen Teil der Ringstraße nach ihm benannte.
Auf Schnitzler selbst geht auch Konstanze Fliedl in ihrem den Band einleitenden Beitrag ein, sie beschäftigt sich mit der „Schnitzler’schen Selbstkritik“, eine Fähigkeit beziehungsweise Bürde, die sich durch das gesamte autobiografische Äußern des Autors zieht. Immer wieder zweifelt er an seinem Talent, zieht er Vergleiche zu den Freunden Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann und Felix Salten. „Werd ich je die Ruhe? – werd ich je das Talent haben? Werd ich mich überhaupt noch entwickeln? – Die Wirklichen haben immer und immer gearbeitet [...] ich bin doch eigentlich nur ein Quartaldichter (so wie es Quartalsäufer gibt).“, so Schnitzler. Und doch ist es gerade diese fehlende Gewissheit von Begabung und Wirkung – wie Fliedl darlegt –, die unbedingte Reflektiertheit, die seine Werke zu „zeitloser Meisterschaft“ veredeln.
Alleine die Beiträge machen das Buch schon zu einem überaus gelungenen Werk, doch die Bebilderung unterstützt den hervorragenden Gesamteindruck noch. Klug gewählt sind die Abbildungen, scheinbar Banales entpuppt sich beim Betrachten des Kontextes als treffende Illustration der Texte, historische Dokumente lassen die Zeit der Entstehung der Werke wieder aufleben. Gelungen und ganz im Sinne der Ausstellung, dem Besucher einen „Sehraum“ zu entfalten, ist hier der so genannte „Bilder-Reigen“ im Mittelteil des Buches, der die Dialoge des „Reigen“ neben zeitgenössischen Accessoires, Zeitungsausschnitten und Zitaten präsentiert. Ein Begleitbuch zu einer nicht uninteressanten Ausstellung, das seinen ganz eigenen Stellenwert hat und das mit der Qualität seiner Beiträge auch unter Literaturwissenschaftlern Freunde finden wird.

Evelyne Polt-Heinzl, Gisela Steinlechner (Hrsg.): Arthur Schnitzler. Affairen und Affekte.
Christian Brandstätter Verlag, Wien 2006.
160 Seiten, 36 EUR
ISBN 978-3-85033-030-5