Von André Schwarz „Der Garten der Erkenntnis“ und der Dilettantismus in der Wiener Moderne ist das Thema der Dissertation von Cathrine Theodorsen, die 2005 an der Universität Tromsø eingereicht wurde und nun im Wehrhahn Verlag erschienen ist. Zunächst wendet sich die Autorin dem Begriff des Dilettantismus zu, untersucht anschaulich und erhellend die Dilettantismuskonzepte von Goethe, Schiller, Max Weber, Egon Fridell sowie die Rolle des Dilettanten in der Musik, um schließlich das Konzept des Wiener fin de siècle ausführlich zu präzisieren – jene Mischung aus „Dilettantismus, Anempfindung, dem neuen Kritikertypus und dem Nervendiskurs“, der mit Hermann Bahr für die Jung-Wiener konstituierend sein sollte, und den Theodorsen auf den 1891 veröffentlichten Aufsatz „Zur Geschichte der Kritik in Frankreich“ des Literaturkritikers Rudolf Lothar zurückführt. Im zweiten Teil ihrer Studie führt Theodorsen die literarische Entwicklung von Leopold Andrian als beispielhaft für eine Dilettantenbiografie ein, sie deutet – und dies ist in keinster Weise von der Hand zu weisen – die Position Andrians nicht als gescheiterter Schriftsteller, sondern als Suchender auf den verschiedenen Gebieten der Wissenschaft. Sie stellt sich damit gegen eine Forschung, die nur allzu gerne auf gewohnte Positionen zurückfällt, indem sie wieder und wieder das Bild des hypochondrischen, schwächlichen, latent homosexuellen Sonderlings beschwört, der sich vor seiner Schreibhemmung in die Politik flüchtet. Denn – so Theodorsen - nicht das Klischee des „Verstummen“ als vielmehr die „Begierde nach Wissen, [...] sowie seine Beschäftigung mit Sprachen, Wissenschaft und Zeichnen“ weckt das Interesse an der Genese des Dilettanten Andrian. Umfassend zeigt Theodorsen die charakteristische Stilisierung als Künstler in den frühen Werken, die ersten Versuche, Anerkennung als Schriftsteller zu erlangen und Mitarbeiter der „Blätter für die Kunst“ zu werden. Nach der Veröffentlichung des „Garten“ kümmerte sich Andrian sehr wohl zuerst um seine diplomatische Karriere, so war er zwischen 1900 und 1911 Attaché an den Gesandtschaften in Athen, Petropolis, St. Petersburg, Kiew und Bukarest, danach war er Generalkonsul in Warschau. Doch kam seine schriftliche Produktion auch in dieser Zeit nie ganz zum Erliegen, in seinen Tagebüchern reflektiert er über die von ihm angestrebte Einheit der unvereinbar scheinenden Kulturen Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft und Poesie. Alle Bereiche des Lebens sollen ins eigene Ich aufgenommen werden, um ein anderer, möglicherweise besserer Mensch zu werden. Die Tagebücher wurden ihm darüber hinaus zur Dokumentation seiner Bildungsgeschichte, akribisch führte er Literaturlisten, reflektierte seine Theaterbesuche. Insofern zeigt sich Andrian sehr wohl als klassischer, aristokratischer Dilettant. In seinen späten Jahren veröffentlichte Leopold Andrian darüber hinaus die kosmologische Studie „Die Ständeordnung des Alls“ (1930) und die politische Sammlung „Oesterreich im Prisma der Idee“ (1937), von einem „Verstummen“ kann also keine Rede sein. Die zweite Hälfte der Arbeit beschäftigt sich mit dem 1895 erschienenen „Garten der Erkenntnis“, Theodorsen bewegt sich souverän durch ihre Textanalyse, untersucht die recht eigenwillige Bedeutung der Zeit und des Erzähltempos für den Text sowie das leitende Konzept des Textes, die Suche nach Erkenntnis. Der „Garten“ changiert zwischen Romantik und Avantgarde, zwischen vormodernen und modernen Elementen, versinnbildlicht den Ästhetizismus mittels symbolistischem Nimbus von Mystik, Nervosität und Melancholie. Die Suche nach der Erkenntnis bleibt aber im Nebulösen, im Unbestimmten, der Fürst stirbt am Ende, „ohne erkannt zu haben.“ Klug sind auch Theodorsens Ausführungen zur Figur des Fremden und dessen sexuelle Anziehung auf Erwin. Der Fremde verkörpert ein Leben, das Erwin vollkommen unbekannt ist, über das er keine Kontrolle hat, das in sich voller Widersprüchlichkeit ist: „Im niedrigen Gesicht des Fremden war Sanftmut und Bosheit, Furchtsamkeit und Drohung und das ganze Leben.“ Ein Leben, dem Erwin seine Rätselhaftigkeit entziehen will, ein Versuch, der aufgrund seines elementaren Nicht-Verstehen-Könnens zum Scheitern verurteilt ist. In einer letzten Exkursion beschäftigt sich Theodorsen abschließend mit den literarischen Produktionen im Umfeld des „Garten der Erkenntnis“ und deren Verhältnis zum Dilettantismus sowie ihren Bezügen zum „Garten“, wobei Hermann Bahr als einziger zeitgenössischer Kritiker den „Garten“ in die Traditionslinie des Dilettantismus stellte und Andrians Protagonisten mit jenen des französischen Schriftstellers Maurice Barres verglich. Eine gute und durchdachte Studie hat Cathrine Theodorsen verfasst, die durchaus und mit Recht das Zeug hat, die Forschung über Leopold Andrian zu beleben und aus ihren unumstößlich scheinenden Positionen zu bewegen. Die Herausstellung des prototypischen Dilettanten Andrian hat einiges für sich und regt zu weiterer Untersuchung an – und sie zeigt, dass sich auf dem Gebiet der Forschung zum „Garten der Erkenntnis“ noch so mancher Stein befindet, der sich lohnt, umgedreht zu werden.
Cathrine Theodorsen: Leopold Andrian, seine Erzählung „Der Garten der Erkenntnis“ und der Dilettantismus in Wien um 1900. |